Wo war Gott?

Gedanken zum „school shooting“ in Graz von Pfarrer Andreas Meißner

Stille in Graz. Die Stadt schweigt. Die Nachrichten überschlagen sich. Zeitungen sind voll. Bilder im TV. Interviews. Kerzen. Betroffenheit. Tränen. Sprachlosigkeit.

10 junge Menschen wurden am Dienstag (10.06.2025) aus dem Leben gerissen. Eine Schule, ein Ort fürs Leben und Lernen und plötzlich Schrecken. Und am Ende, am Klo noch ein Leben ausgelöscht – der Täter selbst. Also: Elf Familien in unvorstellbarem Schmerz. Hunderte Lernende und Lehrende in Schock. Wie an die Wand gefahren. Ein Land in Trauer.

Die Fahnen auf den Weg nach unten. Drei Tage lang steht das öffentliche Leben still. Und ich frage mich:

I. Wo war Gott?

Das ist keine Frage fürs Kaffeekränzchen; auch nicht für Philosophen. Das ist eine Frage, die brennt. Kleine Kinder stellen sie schon. Aus der tiefe des Menschseines steigt sie auf: „Wo, Gott, warst du, als das passierte?“

II. David kennt die Nacht

Dieser Psalm ist Lebensgeschichte. David schrieb ihn. Ein Mann, nach dem das Dunkel griff. Nicht nur die Nacht. Die hat wenigstens Mond und Sterne. Ein Mann, nach dem das Dunkel des Lebens griff. Etwa: Sein König warf den Speer nach ihm, als er musizierte; sein Sohn zettelte die Verfolgung an gegen ihn.

III. Attentat. Weglaufen. Sich verkleiden.

David kennt es: „Ich bin allein. Ich bin auf der Abschussliste. Ich bin am Ende.“ Und doch –dann – schreibt er diese unglaublichen Worte: „Wohin sollte ich gehen vor deinem Geist? Selbst in der Finsternis bist du da!“ Er flieht nicht vor Gott, aber er fragt: „Wo, Herr, wo bist du?“ Und er entdeckt: Auch in der Finsternis, du bist da. Auch dort. Gerade dort.

IV. Dunkelheit – keiner begreift sie

In unserer Welt ist das Dunkel nicht nur ein Gegenteil von Licht. Die Finsternis ist eine Realität. Sie zerstört Menschen. Was ist da passiert in Graz am BORG? Ein junger Mann, das Glashaus seiner Seele eingeschlagen und kaputt, verliert alle Kontrolle. In ihm war Hass und Wahnsinn. Tiefste Nacht ohne Mond und Sterne. Und dann: zwei Waffen. Zehn Leben weggeknipst, bevor jemand eingreifen konnte.

Ich versuche ja auch zu verstehen. Wir suchen Erklärungen. Psychologen reden von psychischen Erkrankungen. Medien suchen Motive. Politiker diskutieren über Sicherheitslücken. Alles wichtig… Aber das ist auch das, was tiefer liegt. Man kann es nicht fassen. Es nimmt uns den Atem. Das Böse, der Böse, die blanke Finsternis. Und woher kommt diese Nacht mitten am Tag?

Seit die ersten Menschen Gott sein wollen, sein wie der Heilige Herr selbst. Seit damals ist dies unsere Lage: Wir wollen Mittelpunkt sein; nun müssen wir Mittelpunkt sein. Gott soll uns in Ruhe lassen. Also lässt uns Gott in Ruhe. Unser Ding wollen wir machen, nicht seins. Also müssen wir jetzt aus uns leben: unseren Willen tun – nicht seinen, unsere Seele suchen, nicht seinen Heiligen Geist.

Ihr wollt der Mittelpunkt sein in euren Beziehungen, in der Art zu leben, Rache statt Vergebung, Gewalt statt Frieden. Nun gut, ihr seid frei. Keiner ist Gottes Marionette, Puppe mit Zugfäden. Lebt euch aus. Habe ich euch nicht gesagt: ich brauch ein neues Herz!? Seht: so schrecklich kann ein Menschen-Herz sein. Die blanke Finsternis.

Und genau da hinein redet dieser Psalm. Nicht billig. Nicht wie Pflaster auf schreienden Wunden, die ja doch nicht heilen. Sondern wie ein Ruf in ein schwarzes Loch hinein: Gott ist auch dort in den Klassenzimmern.

V. Der Gott, der mit in der Finsternis steht

Höre noch einmal den Psalm, Vers 11 und 12: spräche ich „Finsternis möge mich decken … so ist auch die Finsternis nicht finster bei dir!“

Was für ein Satz. Für uns ist Finsternis zappenduster. Für Gott nicht. Für uns ist Kellerexistenz das Ende. Für Gott nicht. Für uns ist der Tod das „Aus und Vorbei“. Für Gott nicht. Das heißt njicht, dass Gott das Dunkel gut heißt, dass er über Graz zur Tagesordnung übergeht. Im Gegenteil: Gott hasst das Böse. Er weint, wenn Attentäter eine Beute des Teufels werden, sich und andere zerstören. Aber er lässt uns im Dunkel nicht allein. Er versteckt sich nicht, läuft nicht, schweigt nicht und schaut nicht weg. Jesus ist der Beweis dafür.

VI. Jesus – Gottes Schritt ins Dunkel

Der Sohn Gottes kam – mitten ein in die kaputte Welt. Nicht mit einem Bodyguard-Team, nicht gepanzert, nicht distanziert. Er kam als Mensch unter Menschen. Als einer, der weinte. Als einer, der sich verletzten ließ. Er hat mitgelitten. Ans Kreuz schlugen sie ihn. Sein Schrei vom Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, ist der tiefste Punkt, den Gott je betreten hat. Und da war er: In der finstersten Finsternis. Das heißt: Auch wenn er den Menschen seinen Willen lässt, auch im Amoklauf von Graz war Gott nicht abwesend, nicht fern, nicht taub.

Er war da als Zeuge des Grauens, als Beteiligter. Dieser Dienstag, 10. Juni, brachte ihn auch ans Kreuz. Diese Schüsse waren bereits vor 2000 Jahren Hammerschläge der Soldaten. Als der, der mit den Opfern leidet, und ja, auch als der, der den Täter sieht – und sein Urteil zurückhält bis alles ans Licht kommt.

VII. Aber warum hat er es zugelassen?

Die Frage bleibt: Sie brennt. Warum? Warum schlägt Gott dem Mörder das Gewehr nicht aus der Hand? Weshalb pflügt er Golgatha nicht einfach weg mit all den Tempelgestalten? Weil er den Menschen frei geschaffen hat. Wir wollen es ja auch nicht, wenn Gott sich einmischt bei uns, oder? Weil Liebe zum Herrn nur dann echt ist, wenn sie frei ist. Weil wir keine Marionetten sind, Puppen mit Fadenzug. Weil du, in dem was du willst, planst und tust, nicht herumgeschoben wirst wie eine Schachfigur. Glaub ja nicht, dass er machtlos ist. Er kann sogar Ozonlöcher schließen. Aber dir und mir zwingt er sich nicht auf. Waffen dürfen wir kaufen, wir sind ja frei und mündig. Warum beschweren wir uns? Er schreit nicht lauter als unsere Gewalt. Er zwingt sich nicht in jedes Klassenzimmer. Aber und das ist entscheidend: Er ist da, wenn alles zerbricht. Wenn keiner mehr bleibt: Er bleibt. Seine Hand ist ausgestreckt – auch wenn alles in uns schreit:

„Gott, du tust ja doch nicht, was ich will. Gott, du gabst deine Gebote und ich übertrete sie. Warum wendest du den Schaden nicht ab? Lass mich in Ruhe, Gott!“ Und der Gekreuzigte hält das aus.

VIII. Du hältst deine Hand über mir

David schreibt: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst diene Hand über mir!“

Hand? Welche Hand? Nun, diese Hand schlägt nicht zu. Noch nicht. Erst am Gerichtstag. Diese Hand macht keinen Druck. Es ist die Hand des Vaters. Sie schützt, sie tröstet und sie richtet wieder auf. Vielleicht hast du sie am Dienstag nicht gespürt. Vielleicht spüren die Angehörigen sie heute nicht. Vielleicht schreien sie: „Gott, wo warst du?“, und drohen mit der Faust. Aber diese Hand des Herrn ist da. Sanft. Still. Geduldig. Wartend. Die Hand, die einst Nägel durchbohrten, ist heute die Hand, die tröstet.

IX. Was bleibt nach Dienstag im BORG in Graz?

Zehn leere Stühle, 11 offene Gräber, unzählige Tränen, ein Land im Schock. Was bleibt ist aber auch dieser Psalm. Dieses uralte Bekenntnis mitten ins Dunkel hinein: „Du, Herr, bist da. Auch hier Auch jetzt. Und da: Lauf jetzt nicht weg. Versteck dich nicht vor Gott. Auch wenn du wütend bist. Auch wenn du zweifelst. Auch wenn du nicht mehr beten kannst.

Gott bleibt. Er geht dir nach. Er hält dich.

X. Licht in der Nacht

Ich liege im Bett. Die Gedanken kreisen. Bilder von Dienstag in Graz. Und die Frage: „Was wäre, wenn ich selbst dort gewesen wäre?“ David, komm sage es mir: „Die Nacht leuchtet wie der Tag – Finsternis ist wie das Licht!“

Das ist kein Trauer-Schmarrn. Das ist Gottes Wirklichkeit. Sein Licht geht in die tiefste Nacht. Nicht mit 5000 Lumen, sondern wie eine kleine unbeirrbare Kerze. Wie ein Nachtlicht, aber geht nicht aus. Auch nicht im Borg in der Dreierschützengasse.

XI. Hoffnung – trotz allem

Was sagt man den Angehörigen? Den Freunden? Den Lehrern? Vielleicht nichts. Vielleicht einfach: Ich bin da. Eine Hand halten. Beten. Tränen teilen. Und vielleicht irgendwann den Psalm beten: „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist? … Finsternis ist nicht finster bei dir!“ Denn dieser Gott hat mehr als Tränen. Er hat Zukunft. Er hat Trost. Und: Er hat das letzte Wort! Das Kreuz zeigt: Gott kennt das Lied. Die Auferstehung zeigt: Er besiegt es.

XII. Schlusswort – mit David

„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz;
Prüfe mich und erkenne, wie ich es meine
und siehe, ob ich auf böesem Wege bin,
und leite mich auf ewigem Wege!“ (Ps 139,23.24)

Das ist ein mutiges Gebet. Ehrlich. Tief und hoffnungsvoll. Der Weg mit Gott dem Herrn führt dich auch durch deine Nacht. Und eines Tages ins Licht, das nicht mehr vergeht!

Amen

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